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Die Hallischen Musiktage 1998

Die Hallischen Musiktage 1998 unterliegen keinem Motto. Vielmehr haben wir versucht, die Breite des Programmangebots einer breiteren Interessentengemeinschaft des Publikums anzupassen. Außerdem werden in jedem Jahr so viele wichtige Ereignisse zu reflektieren sein, daß jede Art Leitmotiv eine unangebrachte Einengung bedeuten würde.

Ein Hauptanliegen der Musiktage, die mit Ihrem Bestehen seit 1955 das zweitälteste Festival kontemporärer Musik im deutschen Sprachraum sind, ist, verglichen mit anderen Festivals, elementarerer Natur. Uns geht es darum, mit reellen Mitteln die bestehende Berührungsangst, die das Normalpublikum (im Unterschied zum Experten- oder Liebhaberpublikum) offensichtlich mit Neuer Musik hat, etwas abzubauen. Dabei wollen wir nicht in Fahrwasser geraten, die fernab des formulierten Kunstanspruchs Kommerzialien benutzen. Eine solche Art des Programmgestaltens lehnen wir ab, weil nur Offenheit und Ehrlichkeit dazu führen können, der Menschen Sinne für Kunstformen zu öffnen, die ihnen im alltäglichen Kulturbetrieb nicht geboten werden. Man kann also sagen: wir machen mit den Musiktagen außergewöhnliche Konzerte. Das ist sicher so, wenn man den Vergleich zur eingestellten Normalität des Konzertalltags als Maßstab anlegt. Aber es ist ein Phänomen unserer Zeit, dass die Musik vorwiegend zu etwas brauchbar zu sein hat: zum Entspannen, zum Streßabbau, zur Untermalung, zum Konsumantrieb in Kaufhäusern, zur Motivation für ... Und genau so hat man Musik in Kategorien einzuteilen begonnen und während ihr Nützlichkeitsanspruch sogar mittlerweile auf Musikwerke festgelegt wird, die ursprünglich eine ganz andere Bedeutung haben (Bachs Passionen zum Relaxing), ist die Neue Musik, ob Avantgarde oder Postmoderne, irgendwie übrig geblieben. Diese Tatsache hat die Neue Musik an den Rand gedrängt. Von Politikern, über Konzertveranstalter, bis hin zu Musikern, die ja ihr Publikum nicht verlieren wollen, alle sie fahren den musikalischen Kunstbetrieb im sogenannten "abgesicherten Modus". Man spielt was gefällt oder wo man annehmen kann, dass es dem angesprochenen Sozialkonsens des Musikverständnisses entspricht. Die Komponisten, die nicht bereit sind, sich diesem Konsens zu beugen haben zwar schon immer etwas Probleme gehabt, aber in unserer Zeit geht das so weit, dass ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt werden muss. Wenn die Eröffnung eines neuen Konzerthauses in Halle mit einer Weihemusik erfolgt, die Beethoven 1822 für die Eröffnung des Theaters an der Josephstadt in Wien komponierte, ohne dass irgend jemandem überhaupt auffällt, wie wenig das mit unserer Stadt zu tun hat (trotz des Themas im Händelduktus), dann wäre das die wohl aktuellste Begründung für die Notwendigkeit unserer Hallischen Musiktage. Wenn die dafür verantwortlichen Politiker die Tradition nicht als Kopiervorlage sondern innovativ angewandt hätten, dann wären sie vielleicht darauf gekommen, dass die Weihe eines neuen Hauses auch eine neue Weihemusik benötigte. Traditionsbezug heißt eben auch Tradition begründen. Wer Kultur- oder Musikgeschichte schreiben will, wird das nicht mit musikalischer Grabpflege bewältigen. Auch darum gibt es die Hallischen Musiktage! Und um die Schieflage unseres Musikverständnisses noch deutlicher zu machen: Hätte der damalige Theaterdirektor Carl Friedrich Hensler so gedacht,  wie unsere Kulturverantwortlichen an gleicher Stelle, so hätte er wohlmöglich für die Eröffnung seines Theaters an der Josephstadt Musik von 1646, also vielleicht Heinrich Schütz aufführen müssen. Nein, aber er hat nicht einmal die Musik seiner Elterngeneration bemüht. Wie arm sind wir geworden, und was haben wir für nachfolgende Generationen zu hinterlassen? Meinen sie nicht, dass jede Folgegeneration ihr Traditionsverständnis neu definiert, und dass es angesichts dieser Tatsache vollkommen unerheblich ist, wie wir über Bach oder Händel heute denken. Unsere Enkel wird nur die Authentizität unseres Jahrhunderts interessieren. Denn das ist das, was sie als Erbe von uns bekommen. Und weil uns das so sehr aus dem Bewusstsein gerückt ist, gibt es die Hallischen Musiktage. Sie sind, wie Oberbürgermeister Dr. Rauen in seinem Grußwort im letzten Jahr formulierte, "nicht nur eine kulturpolitische Aufgabe, sondern eine genuine Verpflichtung gegenüber den Nachgeborenen". Und angesichts dieser Tatsache ist jede ästhetische Diskussion über kontemporäre Musik eine Chimäre. Es geht um unser Gesicht und um die künstlerische Authentizität diese Jahrhunderts. Und darum gibt es die Musiktage!

Thomas Buchholz, 1998





© 2006 Thomas Buchholz - Komponist

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