Die Rahmenrichtlinien im Fach Musik in Sachsen-Anhalt
Rahmenprogramme unterscheiden sich
von Lehrplänen vornehmlich dadurch, dass anstelle von festgelegten
Unterrichtsinhalten der Lehrkraft lediglich ein Rahmen vorgegeben wird,
der konkrete Inhalte in frei wählbare Themenkomplexen zusammenfasst.
Diese Darstellungsmethode hat den Vorteil einer offenen Auswahl, in der
aber abgesichert sein sollte, dass die Unterrichtsziele erreicht werden.
Die vorgegebenen Themenkomplexe entsprechen also nicht den Unterrichtszielen,
sie stellen lediglich unterschiedliche Wege zum Erreichen dieser dar. Das
setzt voraus, dass die innerhalb der Themenkomplexe angegebenen Beispiele
exemplarischen Charakter tragen, damit ein Austausch gegen andere Beispiele
sinnvoll wird. Bestenfalls wäre dieser exemplarische Charakter zu
definieren, um Missverständnisse zu vermeiden. Sind Rahmenrichtlinien
mit inhaltlichen Fehlern behaftet oder ist eine genaue Orientierung der
Beispiele dadurch verhindert, dass sie des exemplarischen Charakters entbehren,
wird eine sonderbare Beliebigkeit in der Festlegung der Unterrichtsinhalte
die Folge sein, die letztlich dazu führt, dass sich eindeutige Unterrichtsziele
nicht mehr verallgemeinern lassen.
Die Rahmenrichtlinien
im Fach Musik in Sachsen-Anhalt geben hinsichtlich des oben Gesagten hinreichenden
Anlass zu fachlicher Kritik. Nicht nur die Zusammenstellung der Musikbeispiele
erscheint ehr so, als hätten die Verfasser hier persönlichen
Vorlieben gefrönt. Gerade in der sehr zu begrüßenden fächerübergreifenden
Anlage der Themenkomplexe sind diese in ihrer Herangehensweise immer mit
einem Blick von Außen auf die Musik verbunden. Die Dominanz soziologischer
Fragestellungen ist zumindest dahingehend bedenklich, als dass das Teilgebiet
Musiksoziologie innerhalb der musikwissenschaftlichen Einzeldisziplinen
nicht jene Herausgehobenheit in der Musikbetrachtung besitzt, die durch
diese Rahmenrichtlinien impliziert werden. Dabei läuft der dargestellte
Inhalt zu sehr Gefahr, bei der Betrachtung von Musikwerken in eine Hermeneutik
des 19. Jahrhunderts zu verfallen, die dem derzeitigen musikästhetischen
Forschungsstand völlig zuwider läuft.
Es ist Aufgabe
der Fachunterrichts, Musik zu vermitteln, wodurch das Verständnis
der Musik und das Wissen über Musik in einem ausgewogenen Verhältnis
zum allgemeinsten Unterrichtsziel werden sollte. Ein methodischer Weg,
der fast immer über außermusikalische Bereiche an die Musik
heranführen will ist daher grundsätzlich abzulehnen, weil das
Verstehen von Musik niemals dadurch erreicht wird, wenn man Musik verbal
erklärt. Es mag durchaus sein, dass manche Pädagogen meinen,
mit solchen Herangehensweisen Erfolg bei den Lernenden zu haben. Diese
Erfolge sind Scheinerfolge.
Das Wesen
der Musik liegt in Tönen, Klängen und Geräuschen, Rhythmen
und Metren und ihrer Zusammensetzung, ihrem Zusammenwirken begründet.
Das Wesen des Musikalischen definiert sich daher im Erfassen dieser Gegebenheiten.
Kein Mensch ist gänzlich unmusikalisch. Die meisten Menschen haben
aber nie das Glück gehabt, ihre sensorischen Fähigkeiten für
musikalische Elemente zu erkennen und darauf aufbauend entsprechende Fertigkeiten
zu entwickeln. Daher möchte ich eher von einem breiten musikalischen
Analphabetismus sprechen, als den Selbsteinschätzungen vieler Menschen,
sie seien unmusikalisch, nachzugegeben.
Bevor man
also mit fächerübergreifenden Betrachtungen der Musik beginnt,
sollte grundsätzlich ein rein musikalisches Fundament gelegt werden.
Das Erlernen musikalischer Fertigkeiten erfolgt ausschließlich über
das Musikmachen. Das beginnt mit dem Singen, denn dieses ist die Grundlage
allen Musizierens. Die häufig anzutreffende Meinung, nicht singen
zu können ist eine Schutzbehauptung, nicht singen zu müssen.
Wirklich nicht singen kann nur der, dessen Stimmapparat organische Defekte
aufweist. Alle anderen angeblichen Defekte sind stimmphysiologische Fehlleistungen,
die aufgrund falscher oder ungenügender Kopplung von Atemapparat und
Stimmapparat entstehen. Allgemeine Verspannungen, schlechte Haltung und
ungeschultes Artikulationsvermögen lassen sich dabei schon beim Sprechen
feststellen. Eine gute Stimmhygiene gehört grundsätzlich zum
Singen im Musikunterricht. Das dabei viel für andere Schulfächer
bis hin zur Persönlichkeitsbildung geleistet werden kann, liegt auf
der Hand. Die Beherrschung von Stimme und Sprache ist Ausdruck einer Persönlichkeit.
Sprache und
Musik bilden eine Einheit. Jüngste Forschungen über den Urmenschen
haben ergeben, dass die Sprachfähigkeit des Menschen die Voraussetzung
für das Musizieren ist. Der bei den Tieren beobachtete Gesang ist
lediglich Teil oder Ausdruck ihrer Kommunikation. Das hat nichts mit jenem
Musizieren gemein, das sich in innerhalb der Humangenese ausgebildet hat.
Der Grundansatz der musikalischen Ausbildung sollte mit Sprachübungen
beginnen. Sie bilden den Grundstock für das metrische Empfinden. Dieses
wird häufig im Musikunterricht vergessen. Zu schnell spricht man über
Rhythmus oder verwechselt beides miteinander. Die Sprachrhythmik kann das
musikalisch rhythmische Empfinden schulen. Der Grundschlag als metrisches
Element dient dabei der Orientierung.
Tonhöhenempfindung
zu schulen, ist mit dem Einsatz der eigenen Stimme verbunden. Die Bildung
des Gehörs ist das Wichtigste. Wer nicht hören kann, versteht
auch nicht. Tonale Beziehungen lassen sich seit über 1000 Jahren mit
Handzeichen und Solmisationssilben vermitteln. Das von Richard Münnich
in den 30er Jahren entwickelte System der JA-LE-Silben dürfte das
Ausgereifteste sein, weil es für alle Musikstile und Tonsysteme erweiterbar
ist. Leider aber ist es bereits zu DDR-Zeiten nur unzureichend angewendet
worden und daher wie jede gute Methode als Rudiment unbrauchbar. Alle negative
Kritik über dieses System kommt von Leuten, die es nicht beherrschen,
weder musikalisch noch methodisch. Andere Kritiker begnügen sich mit
der Feststellung, dass es sich um eine Methode der sozialistischen Musikerziehung
handle, die sich nicht bewährt habe. Diese politische Feststellung
ist das Ergebnis ungenügender Kenntnisse über eine völlig
unpolitische Methode mit einer jahrhundertealten Tradition. Eine weitere
Kritik besagt, dass diese Methode die Kinder vom richtigen Notenlesen ablenke,
was ebensolcher Unsinn ist. Die Solmisation ist die einzige Art und Weise,
Kindern, die Möglichkeit zu geben, Notenschrift als sangbare Intervallbezüge
zu begreifen und das Blattsingen zu erlernen. Erst der Unterricht im Instrumentalspiel
macht die genaue Kenntnis der Tonarten, Versetzungszeichen und anderer
Notenschriftbedeutungen notwendig. Wer ein Lied in D-Dur genau in dieser
Tonart vom Blatt singen will, braucht die Fähigkeit des absoluten
Hörens. Für das Singen in der Schule und in Laienchören
aller Art ist die Solmisation für eine saubere Intonation unerlässlich,
auch für solche Menschen, die bereits ein Instrument spielen. Daher
gehört die Solmisation in jeden Musikunterricht. Richtig angewendet
trägt sie mehr zum Musikverständnis bei, als jede Erklärung.
Der Musikunterricht muss die Voraussetzungen für das Erlebnis des
bewussten Musizierens schaffen. Darüber hinaus ist die JA-LE-Methode
bestens geeignet, Stimmübungen zu machen. Man muss die Musiklehrerinnen
und Musiklehrer unbedingt in diese Methode unterweisen.
In den Rahmenrichtlinien
wird erwähnt, dass die Kinder die Grundlagen der Notenschrift erlernen
sollen. Angesichts des zuvor Gesagten eine völlig billige Aussage.
Hinzu kommt, dass wichtige Unterrichtszeit für solche Sinnlosigkeiten
verschwendet wird, wie das Nachmalen von Notenschlüsseln und Notenzeichen.
Musikunterricht muss, will er erfolgreich sein, hauptsächlich das
Musizieren beinhalten und nicht das praxisferne Herumtheoretisieren. Dazu
zähle ich auch das Auswendiglernen von Komponistenbiografien. Es ist
zwar gut abprüfbar, aber in keiner Weise elementar verständnisfördernd,
was die Musik betrifft.
Eine weitere
Sünde ist es, wenn man das Erlernen von Liedern durch Einzeldarbietungen
der Schüler prüft und bewertet. Es ist doch eine Selbstverständlichkeit,
dass nur das prüfbar ist, was vermittelt wurde. Für das benannte
Vorsingen müsste aber der Schüler folgende Fertigkeiten gelehrt
bekommen haben: Zuerst einmal den stimmphysiologisch richtigen Gebrauch
seiner Stimme, dann sollte er in der Lage sein, das im Klassenverband erlernte
Lied zu Hause repetieren zu können, was ihm aber ohne Kenntnisse des
Blattsingens nicht gelingt, und zuletzt wäre es von Vorteil, das die
musikalische Merkfähigkeit ausgebildet wurde. Wie soll er sich sonst
ein Lied von der einen zur anderen Woche merken? Diese Voraussetzungen
sind aber in aller Regel nicht gegeben.
Ein weiteres
Übel ist das Erkennen bzw. Wiedererkennen von Musikwerken. Auch das
setzt voraus, dass man den Lernenden eine Hilfe in die Hand gibt. Das singende
Erfassen von Motiven oder Themen (Solmisation!) wäre ein probates
Mittel. Da aber das Singen auf das Liedgut beschränkt bleibt und somit
eine Merkfähigkeit nicht trainiert wird, betrachtet man das Abhören
von Tonträgern als isolierte Disziplin. Ein grundlegender Fehler!
Die Liste
der musikalischen Untaten ließe sich beliebig fortsetzen. Das geht
durch alle Klassenstufen. Hinzu kommt, dass der Musikunterricht damit im
Fächerkanon der Schule völlig isoliert ist. Im Mathematikunterricht
wird gerechnet, im Deutschunterricht werden Aufsätze verlangt und
in Kunsterziehung wird gezeichnet, gemalt und modelliert. Selbst im Sportunterricht
kann sich niemand vor dem Turnen dadurch retten, dass er die Biografie
von Turnvater Jahn auswendig kennt. Was ich aber feststellen kann ist,
dass dem Musikunterricht völlig die kreative Komponente fehlt. Musik
erfinden ist etwas, das jeder lernen kann. Das ist nur eine Frage der Methode.
Und hier meine ich wirklich das Komponieren von Melodien und das Vertonen
von Texten sowie kreativer Umgang mit Orffschem Schulwerk.
Nachdem ein
musikalischer Grundstock gelegt ist, kann fächerübergreifend
gearbeitet werden. Da fallen mir aber bessere und vor allem sinnstiftendere
Themen ein als das musikalisch völlig impotente Thema „Musik und Umwelt“.
„Musik und Mathematik“ wäre ein wirklich interessantes Feld. „Musik
und Akustik (Physik)“ oder „Musik und Geschichte“ sind weitere gute Kombinationen.
Im Endeffekt sind die interessantesten Kombinationen fächerübergreifendenden
Arbeitens mit naturwissenschaftlichen Disziplinen zu erreichen. Der Musikunterricht
sollte den Schülern eine schlechte Ästhetik gegen ein guten Handwerk
tauschen.
Das „Faseln“
über Musik beginnt dort, wo mit außermusikalischen Erklärungen
gehandelt wird. Darüber hinaus ist es musikpädagogisch sehr bedenklich.
Jeder Mensch, der Musik assoziativ aufnimmt, hat das Recht auf seine eigene
Welt des Fühlens, weil sie mit seiner persönlichen Erfahrungswelt
zusammen hängt. Wer also bei Beethoven nicht unbedingt das Schicksal
an die Pforte klopfen hört, hat damit nicht unbedingt unrecht. Gebe
ich ihm die Assoziation aber vor, schaffe ich ein Hörparadigma, das
dazu führen kann, dem Andersdeutenden zu suggerieren, er höre
falsch. Und dann denkt er, er höre schlecht und verstehe die Musik
nicht. Aber das hat ja mit musikalischem Verständnis nichts zu tun.
Die neuere Musikpädagogik kommt dann auch noch auf musiktherapeutische
Bahnen wie „Malen nach Musik“. Das ist uns in den Rahmenrichtlinien zum
Glück erspart geblieben. Dennoch möchte ich davor warnen. Es
ist reine Zeitverschwendung.
Was nun das
Musikhören angeht, sollte der Musikunterricht unbedingt in Verschränkung
mit Geschichte und Philosophie stehen. Das bedeutet, dass alle wesentlichen
musik-geschichtlichen Abschnitte durch entsprechende Standartwerke vertreten
sein müssen. Die Rahmenrichtlinien in Sachsen-Anhalt sparen aber auf
der einen Seite, wo sie auf der anderen Seite wuchern. Die Gregorianik,
die Ars Nova bis zur Renaissancemusik bleiben völlig ohne Beachtung.
Selbst die Musik von Heinrich Schütz wird nicht einmal erwähnt.
Hingegen ist der Anteil der populären Musik des 20. Jahrhunderts ebenso
überdimensioniert wie einzelne Positionen in der Neuen Musik. 6 Werke
werden von Ligeti benannt, die polnische Schule (Lutoslawski, Penderecki),
die amerikanische Musik (Feldman), Minimal (Reich) oder elektronische Musik
sind dagegen nicht mit einem einzigen Werkbeispiel bedacht. Und welchen
Sinn die Nationalhymne der DDR von Hanns Eisler als einziger Werkvorschlag
des Schönberg-Schülers hat, ist nicht einzusehen. Sie wird ja
auch nicht im Kontext mit den deutschen Hymnen behandelt oder mit anderen
Nationalhymnen.
Was ebenfalls
völlig unter den Tisch fällt, ist die lokale Musikgeschichte.
Nur für das Gegenwartsschaffen findet sich der lapidare Hinweis, dass
man auch auf Komponisten aus Sachsen-Anhalt verweisen solle. Weder Beispielwerke
werden genannt noch weitere Hinweise gegeben.
Die Rahmenrichtlinien
für das Fach Musik in der neuen Fassung für die Klassenstufen
5-12 sind in ihrer Gesamtheit ein völliger Fehlgriff bezüglich
einer fundierten Allgemeinbildung in Sachen Musik. Sie spielen mit oberflächlichen
Bezügen und enthalten musikologische Fehler, die unverzeihlich sind.
Fast alle Musikwerke des 20. Jahrhunderts firmieren unter dem Themenkomplex
„Musik und Programm“, was zum größten Teil ein Zerrbild schafft,
denn Programmmusik ist eine feste Gattung im 19. Jahrhundert. Selbst impressionistische
Werke wie Pazific 231 von Honegger werden als Programmmusik behandelt.
Dabei gibt es von Honegger eindeutige Texte zu seinem Werk, die genau diese
falsche Auffassung berichtigen. Immer wieder ist eine primitive Musikvermittlung
durchscheinend, die offenbar davon ausgeht, Musik immer außermusikalisch
erklären zu wollen. Man kann sich auch nicht damit herausreden, dass
das alles nur Vorschläge seien. Es sind Beispiele und diese sind häufig
falsch zugeordnet und oft auch nicht exemplarisch.
Ein wirklich
guter Musikunterricht wird nur dann gelingen, wenn man die vorliegenden
Rahmenrichtlinien weitgehend unbeachtet lässt. Ich wünsche mir
hingegen für unsere Kinder, dass Musik etwas Wichtiges sein kann im
Kanon der Schulfächer. Robert Schumann forderte, wie die leibliche
solle auch die geistige Kost einfach und kräftig sein, um Kinder zu
gesunden Erwachsenen zu machen. Das betrifft insbesondere auch solche Fächer
wie die Musik, wo man offenbar glaubt mit mangelnder Tiefe und Gründlichkeit
auszukommen. Wenn diese Rahmenrichtlinien das verkörpern, was der
Musikunterricht soll, dann wäre ich dafür, ihn zur Schadensbegrenzung
abzuschaffen und die frei werdenden Gelder für den Ausbau des außerschulischen
Musikunterrichts zu nutzen. Nur würden wir uns leider damit die Chance
vergeben, allen Kindern eine musikalische Ausbildung zu ermöglichen.
Die einzige Alternative aber wäre, die Rahmenrichtlinien neu und vor
allem besser zu machen.
Halle, November 2002
Thomas Buchholz
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