Werkeinführung
Thomas Buchholz: ORPLID: KEIN ORT - NIRGENDWO
Vorüberlegungen:
Die Problematik, die Chormusik für mich generell besitzt, ist darin
begründet, dass viele Individuen einem einzigen Text und musikalisch
gesehen, einer einzigen Umsetzung dieses Textes untergeordnet sind.
Damit ist zumindest die Sinnfrage zu stellen, warum sie, also die Sängerinnen
und Sänger, dies tun. Offenbar muss der Text und vor allem sein Verhältnis
zur Musik gewissen Bedingungen unterliegen. Es könnte also durchaus
logisch sein, ein Sujet zu wählen, von dem man ausgehen kann, dass
es eine größere Gruppe von Menschen in gleicher Weise betrifft
und berührt. Das können zum einen religiöse Texte sein,
zum anderen gesellschaftliche Probleme, also Dinge der unmittelbaren Lebenssphäre.
Eines der von mir immer wieder beobachteten Phänomene in den modernen
Industriegesellschaften ist der unreflektierte Umgang mit Historie. Zum
einen ergibt sich die Sehnsucht nach Kerzenromantik andererseits möchte
aber kaum jemand auf die zeitgemäßen Errungenschaften verzichten.
Also ein Leben zwischen den Dingen, könnte man das überschreiben.
Kaum war die Reanimation vergangener Zeiten mit mehr Sehnsucht angefüllt
und wurde auch nie derart umfassend betrieben. Das geht einher mit Verlust
von Zeitgefühl, ja Ablehnung der modernen Künste wie beispielsweise
Architektur und Musik. Wäre ein Kunde um 1850 zu einem Tischler gegangen
mit dem Wunsch, dieser möge ihm einen Renaissance-Truhenschrank anfertigen,
wohlmöglich als unverwechselbare Kopie eines Originals nebst allen
Alterungsspuren, so hätte ihm dieser neben seiner Verwunderung über
ein solches Ansinnen erklärt, dass er dazu nicht in der Lage sei,
weil ihm die handwerklichen Techniken dafür unbekannt wären.
Verglichen mit einem heutigen Gang in ein Möbel-Center, wo historische
Kopien in unvorstellbar großer Anzahl uns stilistischer Vielfalt
auf die Kunden warten, wird der Bruch deutlich, von dem ich zu sprechen
begonnen habe.
Und dennoch, die Sehnsucht bleibt, sie war vielleicht zu allen Zeiten
da. Es ist die Sehnsucht nach dem nicht greifbaren Ziel, nach dem nicht
definierbaren Gedanken. Orplid steht wie ein Sinnbild sowohl für das
Gestrige als auch für eine zeitlose Sehnsucht nach der unerfüllbaren
Erfüllung des Traums vom besseren Menschen. Letztlich eine gescheiterte
Hoffnung?
Zum Werk:
Der Chorzyklus „Orplid" entstand von März bis Juli 1998 im Auftrag
des MDR für den Chor des Mitteldeutschen Rundfunks. Die Uraufführung
fand am 19. März 2000 unter Leitung von Howard Arman im Gewandhaus
zu Leipzig statt.
Die Auswahl der Texte folgen dem Plan, die Beschreibung einer Idylle
aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Verlauf des Zyklus mit
Texten aus dem 20. Jahrhundert zu konfrontieren, um im Resutat zu überprüfen,
ob sich dieser Text danach in eben solchem Wohlklang deuten lässt.
Der Text des Gedichtes „Gesang Weylas" von Eduard Mörike (1804-1875),
das vor 1832 entstanden ist, gab die Vorlage und zugleich den Rahmen für
den Zyklus „Orplid". (Hugo Wolf hat das Gedicht bereits in einem seiner
Klavierlieder verwandt, allerdings mit recht zeitgemäßer Harfenromantik.)
„In die reine Luft der Poesie hinaufgehoben", so sprach Fontane über
die Lyrik Mörikes. Dieses Gedicht ist die Beschreibung aller Sehnsucht
nach Harmonie. Der fantastische Ort Orplid könnte eine mediterane
Insel sein, aber es gibt ihn nicht, genauso wenig lässt sich die Sängerin
Weyla zuordnen.
„Georg Heym (1887-1912) errschütterte Zeitgenossen und Nachgeborene
mit einem schmalen Werk, das gnadenlos Entsetzen und Untergang verkündete,
wo andere im hochgestochenen Idyll schwelgten", schrieb Stephan Hermlin.
Die Texte Heyms fungieren in diesem Zyklus genau an der Stelle des nicht
mehr möglichen Idylls. Der Text für „Nacht" ist die 2. Und 3.
Strophe des Gedichtes „Der Abend" von 1910 und der Text für „Agonie"
ist die 3. Und 4. Strophe des Gedichtes „Letzte Wache" von 1911.
Als wohl zur besten Gegenwartsliteratur zählend, und dies schon
ob ihrer genauen und unverblendeten Sprache, dürften die Texte Heiner
Müllers (1929-1995). Die Textauswahl für „Marsyas", jenen
Flötenspieler, dessen Spiel Apoll derart erzürnte, dass er in
einem musikalischen Wettstreit durch eine List gewann und dafür den
einfachen Bauern lebendig häuten ließ, entstammen unvollständig
aus „Bruchstück für Luigi Nono" und vollständig aus
„Ich bin der Engel der Verzweiflung" (beide um 1979 entstanden).
Für „Ariel", dem Luftgeist aus Shakespeares „Der Sturm" stammen die
Texte aus den Gedichten „Glückloser Engel 2" von 1989 und „Geh, Ariel,
bring den Sturm zum Schweigen", ein sehr spätes Gedicht aus dem Nachlass.
Die unverhohlene Konfrontation von Müllers „Alptraum der Geschichte"
- Gedanken, sein Kesselbild als Konsequenz der Endgültigkeit
des eigenen Endes, mit hochromatischer Volkspoesie und den Gedichten Heyms,
in denen sich Müller bereits ankündigt, das hat etwas mit dem
Schrecken zu tun, der sich auftut, am Ende jeden Tags, wenn die ARD - Tagesschau
die beginnende Nacht einflimmert. Die Zusammenstellung ist für mich
ein Stück Zeitgeschichte. Der wage Versuch Mörike mit Müller
und Heym zu kommentieren, schafft jene Überzeugung, die das Alte auf
eine Weise trifft, wo es aufhört alt zu sein, als ob der Staub fällt.
Die Idylle ist unmöglich, sie war es bereits am Beginn, sie war es
immer, sonst hätte es sie nie gegeben. Wohin, wenn selbst Wirklichkeit
unmöglich ist, wie Müllers Texte beweisen, gegen die Katastrophen
der Welt. „BLEIB WEG VON MIR DER DIR NICHT HELFEN KANN" schreibt Müller
in „TRAUMTEXT OKTOBER 1995". Hoffnung ist der letzte Atem.
Die Musik ist eng mit dem Text verwoben. Sie reagiert auf Text, lässt
ihn aber auch brechen. Entsprechend der Auswahl der Texte bildete
der Zyklus eine offene Bogenform, die man mit A-B-C-D-E-A’ schematisieren
kann. Die sechs Stücke des Werkes sind von der musikalischen Faktur
sehr unterschiedlich und auf eine relativ glückliche Weise fügte
es sich, dass ich bei der Komposition fast alle Besetzungsformen des a-cappella-Chorgesanges
benutzen konnte. Da ist die große, linear dominierte Mehrstimmigkeit,
die flächige Kontrapunktik des Doppelchores, die Gegenüberstellung
von großem Chor und Solistengruppe, die choralhaftigkeit des Cantionals
und die Kleingliedrigkeit mottetischen Komponierens. Das Panorama der Möglichkeiten
ist das Panorama der Gedanken, die durch die Texte eingebracht werden.
Die Musik ist dabei ebensowenig Dienerin der Worte, wie die Worte der Musik
den Vorrang lassen könnten.
Thomas Buchholz, Halle im Februar 2000
Werkeinführung für die
UA im Gewandhaus Leipzig am 19. März 2000
Thomas Buchholz: »Orplid: Kein Ort —
nirgendwo«
»Zurechtfinden in einer postmodernen
Situation, stete Suche nach einem künstlerischen Ausdruck, der vor
allem Ehrlichkeit gegenüber dem Zuhörer einschließt, Versuche
über Emotionalität in Tönen, manchmal auch sehr viel traurige
Betroffenheit —vielleicht kann ich so das umreißen, was meine Harmonien
trägt. Ich glaube, man muss vor allem eine gut durchdachte Sicht über
die Welt haben, wenn man sich anstellt, mitten in ihr lebend für andere
etwas zu schreiben. Darum bemühe ich mich.» (Thomas
Buchholz)
Komponist und Werk
Mit dem poetischen Traum von einer lichten, harmonieerfüllten Welt
beginnt der sechsteilige Chorzyklus Orplid: Kein Ort — nirgendwo des in
Halle lebenden Komponisten Thomas Buchholz. Der von Eduard Mörike
(1804 — 1875) und seinem Freund Ludwig Bauer (1803 — 1846) erdachte Name
Orplid erscheint in einigen ihrer Dichtungen als Synonym für eine
wun-dervolle Insel fernab der Realität, als eine nur mit Hilfe der
Kunst erreichbare Idylle, als Abkehr von der Gegenwart hin zum sehnsüchtigen
Dämmer glückli-cher Erinnerung.
Der letzte König von Orplid heißt beispielsweise ein phantasmagorisches
Zwischenspiel innerhalb von Mörikes Künstlerroman Maler Nolten,
das auf eine Märcheninsel mit ihrer Schutzgöttin Weyla führt
— und dabei doch auch gleichnishaft auf das Scheitern der vier Hauptfiguren
des Romans vorbereitet. Sie ver-zweifeln an den Folgen ihrer illusionären
Lebensein-stellung und nähern sich einer inaktivierenden Schicksalsgläubigkeit,
die Mörike für sich selbst mit den Worten zum Ausdruck bringt:
»Der Mensch rollt seinen Wagen, wohin es ihm beliebt, aber unter
den Rädern dreht sich unmerklich die Kugel, die er befährt.»
Jenen nur in der Phantasie vorhandenen Ort Orplid beschwört Mörike,
der vor allem durch seine meister-hafte Novelle Mozart auf der Re/se nach
Prag, sein Frühlingsgedicht Er ist‘s sowie das Kunstmärchen vom
Stuttgarter Huzelmännlein bekannt geworden ist, darüber hinaus
in seinem vor 1 832 geschaffenen Gesang Weylas. Thomas Buchholz wählt
für dieses Gedicht den neuen Titel Orplid und verwendet es sowohl
am Anfang als auch am Ende seiner Kom-position mit der scheinbar paradoxen
Begründung: »Ich vertone es zweimal, weil man es eigentlich
gar nicht vertonen kann.» Am Schluss allerdings ist dieses Gedicht
mit Auszügen aus weiteren, antithetisch zu verstehenden Texten verzahnt,
die in den vier großen Binnensätzen des musikalischen Werkes
zum Tragen kommen und auf die anfängliche geistige Position ein völlig
anderes Licht werfen.
Georg Heym (1887 — 1912) erschüttert die Leser seiner Novellen
und Gedichte oft durch schwarze Idyllen und trostlose, von grauenvollen
Visionen gekennzeichnete Stimmungen. Etwa in seinem Gedicht Der Krieg von
1911 widersetzt er sich de-monstrativ jeglicher idealisierenden Darstellung.
Der zur Komposition herangezogene Text, den Buchholz mit Nacht überschreibt,
entstammt der zweiten und dritten Strophe des Gedichts Der Abend von 1910;
Agonie entspricht der dritten und vierten Strophe des 1911 geschriebenen
Gedichtes Letzte Wache.
Die ausgewählten literarischen Beiträge von Heiner Müller
(1929 — 1995) gehen anfangs auf dessen Bruchstück für Luigi Nono
und Ich bin der Engel der Verzweiflung zurück (beide um 1979) und
beziehen sich gegen Ende der Komposition auf die Gedichte Glückloser
Engel 2 von 1989 sowie auf Geh, Ariel, bring den Sturm zum Schweigen, ein
sehr spätes Gedicht aus dem Nachlass. Der griechische Mythos vom gemarterten
Künstler Marsyas erinnert an den Wettstreit dieses einfachen Flötenspielers
mit dem Gott Apoll, der als der Mächtige durch eine List gewinnt und
seinen Kontrahenten bei lebendigem Leibe häuten lässt. Der Luftgeist
Ariel aus Shakespeares vermächtnishaftem Drama Der Sturm hingegen
verweist in der Interpretation von Müller und Buchholz auf die zuneh-mende
Gefahr der Selbstvernichtung der Menschen.
Bei der Vertonung dieser außerordentlich an-spruchsvollen Textgrundlagen
konnte Thomas Buch-holz insbesondere von Erfahrungen ausgehen, die er bei
der Erarbeitung geistlicher Chorwerke wie der Missa solaris und Liber ecclesiastes
— fragmentum I/II gewonnen hatte, jeweils uraufgeführt von der Meißner
Kantorei unter der Leitung von Christfried Brödel. Außerdem
finden sich Berührungspunkte gerade zu seinen kurz darauf entstandenen
Chorzyklen Fünf Torsi nach Texten von Heiner Müller und den in
Arme-nien mit großem Erfolg uraufgeführten Armenia clamans sowie
zu seinen bisher zehn Kammersinfo-nien. Auf vielfältige Weise zeigt
sich in diesen Werken der eigenschöpferische Umgang des Halleschen
Kom-ponisten mit einer breiten Palette von avantgardisti-schen und postmodernen
Gestaltungsmitteln, die im engen Zusammenhang mit vertonten Texten oder
einer übergeordneten Programmatik innerhalb reiner Instru-mentalmusik
zu spürbar expressiven, eingängigen Klangbildern geformt sind.
Darüber hinaus spiegeln sich im organischen Atmen seiner bekenntnishaften
Musik und im Reichtum vokaler Satztechniken Spezifika seiner künstlerischen
Entwicklung, die offensichtlich etwa mit seiner Gesangsausbildung und mit
seiner wissenschaft-lichen Tätigkeit in Verbindung stehen.
Der in Eisenach geborene Komponist studierte von 1983 bis 1988 an der
Leipziger Musikhochschule die Fächer Komposition (bei Günter
Neubert) sowie Sologesang und Musikpädagogik. Anschließend ging
er bis 1991 als Meisterschüler von Ruth Zechlin an die Berliner Akademie
der Künste und wurde zugleich Assistent für Musiktheorie an der
Martin-Luther-Uni-versität in Halle. Kompositionskurse führten
ihn unter anderem zu Rudolf Kelterborn, Witold Lutoslawski und John Cage.
Bevor Thomas Buchholz im vergan-genen Jahr zum ordentlichen Professor für
Kompo-sition an das Staatliche Komitas-Konservatorium Eriwan/Republik Armenien
berufen wurde, arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Heinrich-Schütz-Akademie
in Thüringen und am Händelhaus in Halle. Er ist Vorsitzender
des Landesverbandes Sachsen-Anhalt Deutscher Komponisten und künstlerischer
Leiter der Hallischen Musiktage. über 60 seiner Werke wurden veröffentlicht,
viele davon auch weit über Deutschland hinaus gespielt und zum Teil
von Rundfunk und Fernsehen aufgezeichnet. Er nahm als Gastdozent an internationalen
Kursen teil und wurde mit mehreren Stipendien ausgezeichnet.
Zu seinem 1998 entstandenen Werk Orplid: Kein Ort — nirgendwo erklärte
er selbst unter anderem: »Ent-sprechend der Auswahl der Texte bildet
der Zyklus eine offene Bogenform, die man mit A-B-O-D-E-A> schema-tisieren
kann. Die sechs Stücke des Werkes sind von der musikalischen Faktur
her sehr unterschiedlich: Da ist die große, linear dominierte Mehrstimmigkeit,
die flächige Kontrapunktik des Doppelchores, die Gegen-überstellung
von großem Chor und Solistengruppe, die Choralhaftigkeit des Cantionals
(mit seiner mehr-stimmigen, akkordischen Setzweise) und die Klein-gliedrigkeit
mottetischen Komponierens. Das Panora-ma der Möglichkeiten ist das
Panorama der Gedan-ken, die durch die Texte eingebracht sind. Die Musik
ist dabei ebenso wenig Dienerin der Worte, wie die Worte der Musik den
Vorrang lassen könnten. — Orplid steht wie ein Sinnbild sowohl für
das Gestrige als auch für eine zeitlose Sehnsucht nach der Erfüllung
des Traums vom besseren Menschen. Letztlich eine gescheiterte Hoffnung?
Dr. Christoph Sramek
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