» Vita

Werkeinführung

Les danses imaginaires pour deux orchestres

Imaginäre Tänze für zwei Orchester

En mémoire de Olivier Messiaen

Im Gedenken an Olivier Messiaen


  1. La Basse danse imaginaire
    Imaginärer Basse danse
  2. La danse piétinant (Estampie)
    Stampftanz (Stampenie)
  3. La Chaconne visionnaire
    Visionäre Chaconne
  4. La danse de l’ombre
    Schattentanz
  5. La dernière valse
    Letzter Walzer


Entstehung

2008 Auftragswerk für Festival impuls 2008

Zum Werk:

Die „imaginären Tänze“ entstanden auf Anregung von Hans Rotman für ein Orchestertreffen innerhalb des IMPULS-Festivals 2008 im Auftrag des Landesmusikrates Sachsen-Anhalt. Die Entstehung fällt in die Zeit zwischen März und Juni 2008. Das Gedenken an Olivier Messiaen war ein Anliegen im Jahr seines 100. Geburtstages. So erklärt sich auch die französische Titelung. Ich habe die Gattung des Concerto grosso verwendet, die sich direkt aus dem Auftrag ergab, denn es sollte ein Stück für ein kleines und ein großes Orchester werden. Und ähnlich wie bei den barocken Modellen kam mir für die formale Anlage eine Suite (von Tänzen) in den Sinn. Mich dieser Idee stellend, wählte ich eine Folge von Tänzen, deren Moden sich vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert erstreckten. Die Besetzung ist für ein Concerto grosso etwas überdimensioniert, kann aber jederzeit aus einem größeren Sinfonieorchester realisiert werden. Das kleine Orchester besteht aus einem Doppelquintett: Bläserquintett mit Flöte, Oboe, Klarinette, Horn und Fagott und Streichorchester mit Violine 1, Violi-ne 2, Viola, Violoncello und Kontrabass, also bezüglich der selbstständigen Stimmen auch ein Quin-tett. Das große Orchester hat mittlere Stärke mit doppeltem Holz, 4 Hörnern, 2 Trompeten, 3 Posaunen, eine Tuba, Schlaginstrumente und ein entsprechend dimensionierter Streicherapparat. Für unsere Zeit kaum noch etwas Besonderes ist ein elektroakustisches Zuspiel im letzten Satz.

  1. La Basse danse imaginaire: Die Basse danse ist in zahlreichen Varianten bekannter festlicher Gesellschaftstanz des 15. und 16. Jahrhunderts. Er kommt im 2/4- und im 3/4-Takt vor und wurde nur (vermutlich auf die Schwerzeit des Taktes) geschritten. Als Eröffnungsstück fast prunkvoll beginnend, entspannt sich dann über das Stück ein imaginär anmutendes metrisches Spiel zwischen Zweier- und Dreier-Einheiten, die hier als Kuriosum in einem 5/4-Takt zusammengefasst sind und so ausreichendes Konfliktpotential anbieten, das ich als Komponist mit Freude ausgekostet habe – bis zur Triole im kleinen Orchester, die wie durch ein Stolpern bereits den letzten Walzer andeutet.
  2. La danse piétinant: Dieser Satz beinhaltet als Form eine Estampi(e), also einen Stampftanz. Der altfranzösische Tanz im Dreiertakt wurde bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als Tanzlied der Troevèrs und Troubadours verwendet. Erst im 14. und 15. Jahrhundert ist daraus eine reine Instrumentalform geworden. Der Name leitet sich aus dem Gotischen von stapjan = stampfen ab. Diesem Wortbezug habe ich in meiner musikalischen Auslegung eines Stampftanzes ent-sprochen. Dabei fällt dem kleinen Orchester eine leicht verschmitzte Rolle zu: Hier wird eine höfi-sche Estampie angedeutet, die sich als Gegensatz zum wilden Stampftanz des großen Orchesters verhält. Ein imaginäres Spiel der Zeiten und Orte.
  3. La Chaconne visionnaire: Die Chaconne, heute noch durch die berühmten Werke eines Bach oder Händel bekannt ohne dass vielleicht einem heutigen Hörer die Tanzmuskeln zucken würden – ähnlich wie bei der verwandten Passacaglia. Ursprünglich handelt es sich hier um spanische Volkstänze, deren Blütezeit das 16. Jahrhundert war. Kompositorisch sind beide Tanzformen eine Kopulation aus Variation und Ostinato. Einer zumeist achttaktigen Figur im Bass – in der Regel eine gewöhnliche Bassus-generalis-Linie – steht eine Melodie in den Oberstimmen gegenüber. Während der Bass ostinatoartig wiederholt wird, variiert die Melodie dazu bei jeder Wiederholung. Anders als bei der Passacaglia, darf der Bass in der Chaconne sich gewisse Freiheiten erlauben. Auch die Melodie muss nicht immer klar erkennbar sein. In meiner Auslegung habe ich diesen Tanz wie eine Vision aus vergangener Zeit verschwimmen lassen. Die Töne der Melodiestimme, auf wenige Geigen in den beiden Orchestern einzeln aufgeteilt, überlagern sich, als ob man die Melodie in einer großen, vom Hall geprägten Kathedrale aufführt. Auch die Bass-Linie ist auf die tiefen Streicher beider Orchester verteilt. Jedoch versetzt, so dass der barocke Bassgang seine Eindeutigkeit einbüßt und zum bloßen Gestus mutiert.
  4. La danse de l’ombre: Ein Schattentanz ist eine spezielle Tanzform aus dem 20. Jahrhundert, bei dem die Akteure hinter einer Stoffwand agieren. Durch das Licht der Scheinwerfern von der Hinterbühne entstehen Schattenbilder auf der Stoffwand. Das Publikum sieht die Schatten von der vorderen Stoffseite. Die Tanzenden formen bei eher ballettartiger Musik assoziationsreiche Figuren, imaginär – wie aus einer anderen Welt. Mein Ausgang ist eine dodekaphone Reihe – Sinnbild für den Kampf der neuen Musik im 20. Jahrhundert. Die Widersinnigkeit war der Walzer als Zwölftonstück. Ich habe es geliebt, gegen meine Feinde. Sie wollten ihre Rache dafür ausüben, dass ich ihre Seelen fraß, verfolgten mich wie Schatten. Ein paar geflüsterte Worte, ein zartes Huschen, ein kühles Hauchen, ein leises Wispern – unfassbar sich an mich klammernd, ein letzter Satz – mich mitreißend in ihren Schattentanz.
  5. La dernière valse: Die letzten Takte des „Letzten Walzers“ schrieb ich in der Klinik nach einem Herzinfarkt. Ich habe den Bruch hörbar gemacht. Ich bin nicht Beethoven – ich wollte dem Schicksal nie in den Rachen greifen. Der Wiener Walzer, aus dem Deutschen Tanz um 1770 her-vorgegangen, verdrängte spätestens nach dem Wiener Kongress 1814/15 das aristokratische Menuett aus dem Ballsaal. Als Symbol gehemmter revolutionärer Stimmungen bezeichnete Eduard Hanslick ihn als „Marseillaise des Herzens“. Der Beginn ist eine Parodie bei der ich spezielle Spieltechniken eingesetzt habe. Nach dem Bruch kommt die Musik aus der Konserve, während der große Klangkörper wie ein Getroffener aushaucht – eine einsame Violine atmet den Takt – gedehnt auf eine Ewigkeit. Für mich war dieser Walzer fernab jenes Humors, den hoffentlich so mancher jetzt zum Glück darin findet. Er war der bleierne Haltepunkt nach vielen imaginären Tänzen in meinem Leben. Das elektroakustische Zuspiel besteht aus synthetisiertem Klangmaterial (samples) der Tänze, das mittels eines softwarebasierten Vocoders digital bearbeitet und computergestützt abgemischt wurde.


Thomas Buchholz (2010) .





© 2006 Thomas Buchholz - Komponist

  top ↑