Werkeinführung
Thomas Buchholz: KRUNK für Streichquartett (2005)
Entstehung:
2006 im Auftrag des Kairos-Quartetts, Berlin
Werkaussage:
Mit KRUNK (ÎèàôÜÎ) wird in der armenischen Sprache der Kranich bezeichnet. Die Armenier haben ein Volkslied mit diesem Titel, das sehr populär ist. Der berühmte armenische Komponist Soromon Soromonjan, mit Mönchsname Komitas genannt, hat es aufgezeichnet und mit einer Klavierbegleitung versehen. Der Komponist darf mit Recht als der Bartók der armenischen Musik gelten. Sein Werkverzeichnis (die Gesamtausgabe umfasst derzeit elf Bände) enthält 90% Vokalmusik, vor allem Chorwerke und Sololieder. Neben sieben Patarak (= Messe der Armenisch Apostolischen Kirche) hat Komitas vorwiegend Volksmusik bearbeitet. Die Quellen dieser Bearbeitungen sind genaue Forschungen zur Musik des Subkaukasus. So sammelte er eine Vielzahl armenischer, aserbaidschanischer, türkischer, anatolischer und georgischer Melodien und forschte an der Übersetzung früher Notationsformen. In Berlin hat Komitas gegen Ende des 19. Jahrhunderts promoviert. Als die jungtürkische Regierung 1915 tausende armenische Intellektuelle deportierte, zählte auch Komitas zu einem solchen Deportationszug. Von den etwa 600 Menschen seines Zuges war er einer der ganz Wenigen, die den Genozid überlebten. Das, was Theodor W. Adorno im Nachkriegsdeutschland als künstlerische Konsequenz nach Auschwitz formulierte, hat Komitas vorgelebt und vorgelitten: Er hat in Folge des grausamen Volkermords keine Note mehr geschrieben und keinen Ton mehr gesungen. Geistig und körperlich gebrochen starb er 1935 im Pariser Exil.
Mein Stück ist der Versuch einer Sprachfindung, eine Trauermusik und ein Klagegesang, bezogen auf eine der grausamsten Christenverfolgungen aller Zeiten. KRUNK ist den Opfern des Völkermords gewidmet. 90 Jahre nach der jungtürkischen „Lösung der Armenierfrage“, die perfide geplant und mit grausamen Vertreibungen, begleitet von unzähligen Massakern, die für 1,5 Millionen armenischen Männern, Frauen und Kindern den Tod bedeuteten, stellt sich diese Frage immer neu. Die Regierung der Türkei leugnet bis auf den heutigen Tag, trotz aller unwiderlegbaren Zeitzeugnisse, diesen ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, dem unmittelbar darauf Hitlers Judenvernichtung folgen sollte. Die deutsche Regierung hat die Geschehnisse von 1915 der kriegsverbündeten Türkei durch schweigende Duldung ertragen. Stimmen von Karl Liebknecht, von dem Pfarrer Johannes Lepsius, dem Schriftsteller Armin T. Wegener und vielen anderen wurde bewusst unterdrückt und entsprechende Veröffentlichungen unter Zensur gestellt. Für Adolf Hitler war, wie Aufzeichnungen seiner Admiralität bezeugen, der Völkermord an den Armeniern Vorbild für die geplante „Lösung der Judenfrage“.
Für mich als deutscher Komponist, verheiratet mit einer armenischen Frau, ist die musikalische Auseinandersetzung mit dem Thema in meinem Schaffen immer wieder anzutreffen, so im Zyklus ARMENIA CLAMANS für Chor Sprecher und 2 Oboen (1999), in SCHARAKAN für Sopran und Kammerensemble (2002), in LACRYMÆ für Viola und Chor (2003) oder in LALAHARATSCH für Oboe und Chor (2004). Diese Auseinandersetzung führte mich über Untersuchungen zur traditionellen armenischen Musik auch in der Kompositionsweise zu Erweiterungen. Das betrifft spezielle Arten der Monodie, die Phrasierung, und eine besondere Auffassung von Ekmelik, in der die Mikrointervalle lediglich als Farbvarianten eines zwölfstufigen Grundsystems gelten, d. h. „kalkulierte Ungenauigkeiten“ sind. Diese Ungenauigkeiten treten vor allem bei bestimmtem armenischen Instrumentarium auf. Beispielsweise ist das überdimensional große Doppelrohrblatt der armenischen Hirtenoboe, dem Duduk, geeignet, mikrointervallische Tonhöhenvarianten zu spielen. Allein durch den Ansatz kann der Dudukspieler je nach Tonlage eine Tonhöhenveränderung bis zu einem Ganztonschritt bewirken. Das hat natürlich einen besonderen Einfluss auf die Spielweise und damit auf die Musik selbst. Es ist wegen der Intonationsungenauigkeiten nur mit großer Mühe möglich, den Duduk mit klassischem Instrumentarium zu koppeln, wie einige Sinfonien des bekannten armenischen Komponisten Avet Terterjan beweisen.
In KRUNK habe ich mit bestimmten intonationsbedingten Färbungen gearbeitet. Andererseits arbeite ich mit europäischen Formgedanken, der sich nach meinem Verständnis durch deutliche Strukturierung von freier Monodie im subkaukasischem Kulturraum unterscheidet.
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