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Werkeinführung

Thomas Buchholz: Synkreation I "Deuterosen" für Orchester

Deuterosen, rückschauende Betrachtungen einer möglichen Vergangenheit ohne Bewältigung. Der Text des ostberliner Autors Gert Neumann (geb. 1942) war der Ausgangspunkt für meine Orchesterkomposition. Neumann habe ich 1996 bei einem Studienaufenthalt im Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf kennengelernt. Da gab es von Anfang an eine Art innerer Übereinkunft. Künstlerisch und menschlich sind wir uns dann immer näher gekommen. Die Besonderheit seiner Sprache und Gedanken reizte mich. Er gab mir neben einigen anderen Texten auch “Deuterosen”. Sein Hinweis auf das “Fehlende im Seienden”, auf das Fehlen von Wahrheit und die Erfahrung, daß Wahrheit oft durch Makellosigkeit ersetzt wird, macht eine erschütternde Realität bewußt, die kaum besser als in Neumanns Text deutlich wird. Ich hatte gerade einen Auftrag für eine Orchesterkomposition für den Internationalen Sommerkurs Junger Instrumentalisten in Michaelstein bekommen. Es war mir ein Bedürfnis mit den jungen Menschen über das Thema ins Gespräch zu kommen. Textvertonungen  im landläufigen Sinne interessierten mich schon lange nicht mehr. Abgesehen davon, daß künstlerische Kommunikation andere Wege sucht. Meine Idee war, beide Arbeiten, den Worttext und die Musik, in ihrer ursprünglichen Selbstständigkeit zu belassen und die mögliche Kommunikationsebene zwischen beiden erst bei der Aufführung wirken zu lassen. Natürlich war mir Neumanns Text Assoziationsmuster für meine Musik, aber ich habe es vermieden, mich von dem Text vereinnahmen zu lassen. Somit ist eine Synkreation entstanden, die in dieser Form keine Vorbilder hat. Viele Komponistenkollegen gehen eher den umgekehrten Weg, in dem sie Sprache musikalisieren, in phonetische Bausteine zerlegen und andere kuriose Dinge tun, damit Sprache sich als akustisches Element der Musik annähert. Das habe ich bewußt vermieden, weil ich die Würde eines künstlerischen Textes für unantastbar halte. Somit hat der Text mit der Musik und die Musik mit dem Text alles und nichts miteinander zu tun. Genau so wurde dann die Uraufführung am 10. August 1996 in Michaelstein aufgefaßt. Neumann hatte selbst gelesen und es gab eine ganze Menge interessanter Reaktionen, sowohl bei den Kursteilnehmern, aber auch beim Publikum. Eine Frau mittleren Alters sprach mich tags darauf an, sie habe  noch den ganzen Abend mit ihrer Freundin über mein Stück diskutiert, sosehr angerührt hat sie die Aufführung. Eine andere Hörerin erzählte mir, sie habe die ganze Nacht nicht richtig geschlafen, so habe sie meine Musik aufgewühlt. Die Diskussionen mit den Kursteilnehmern über die Sprachkraft von Musik schlossen sich an. Ich finde es großartig, wenn Musik noch diese Wirkungen erzielen kann.

Das Werk ist zweiteilig. Vor jedem Teil wird ein von mir genau festgelegter Textabschnitt aus dem
Gesamtwerk gelesen Die formale Struktur der Musik ist relativ einfach. Ein durchinstrumentierter Akkordablauf wird versucht auf E-Dur abzukadenzieren, was stets mißlingt. Des weiteren gibt es figurative Abschnitte und Tonrepetitionen, die in sich eine Monochromie besitzen. Eine besondere Bedeutung kommt dem Schlagwerk und den Pauken zu. Ihre Funktion ist dramaturgisch geprägt. Gleich zu Beginn wird eine Pauke nach einem Glissando bis zur totalen Entspannung des Paukenfells gebracht um in dieser absurden Tongebung den Rhythmus des Deutschlandliedes zu intonieren. Diese rhythmische Grundgestalt kommt immer wieder. Sie ist aufdringlich, vielleicht nervend. Der zweite Teil, anfänglich leise um eine imaginäre Klangmitte zirkulierend, kulminiert dann in einem hohen Ton des Horns. Eine Aktion, die auf den ersten Blick mehr überrascht, als daß der Hörer auf sie vorbereitet, so eine Art Aha-Erlebnis serviert bekommt. Am Ende wird die anfänglich verstimmte Pauke wieder per Glissando auf ihre originale Tonhöhe gebracht. Ein Orchestertuttiakkord mit Nachgang beendet die Komposition.

Th. Buchholz, Halle 1997





© 2006 Thomas Buchholz - Komponist

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