Werkeinführung
Thomas Buchholz: LACRYMAE - Konzert für Viola und Chor
Besetzung:
Solobratsche
2 Chöre: 1. Chor = großer Chor (2 Sopranstimmen,
2 Altstimmen, 2 Tenorstimmen, 2 Bassstimmen)
2. Chor = Kammerchor (SATB und 2 Sopranstimmen, 2 Altstimmen, 2 Tenorstimmen,
2 Bassstimmen)
3 Sätze:
1. lacrymosa, 1. Chor, ca 6'30''
2. lalaharatsch, 2. Chor, ca. 4'30''
3. lacrymosa/lalaharatsch, 1. und 2. Chor, ca. 6'00''
Die besondere Disposition von Soloinstrument und Chor habe ich bereits
in meinem Werk „Armenia clamans“ (1999) mit Erfolg erprobt. Sonderbarerweise
gibt es dazu wenige Werke. Mich reizte nun, ein Solostreichinstrument in
der Konzertform mit Chor zu kombinieren. Das bedeutet, dass die Aufgabe
des Chores der eines Orchesters entspricht. Einer Überfrachtung mit
Textinformation habe ich dadurch erreicht, dass ich mich auf die musikalische
Auslegung des Wortes „lacrymosa“ (lat. = tränenreich) und der altarmenischen
Entsprechung "lalaharatsch" beschränkt habe. Diese Koppelung hat neben
den weiter unten erwähnten inhaltlichen Gründen den Vorteil,
dass es sich hier um zwei heute „stumme“ Altsprachen handelt, die beide
zur indogermanischen Sprachfamilie gehören. Beide Sprachen sind noch
heute Liturgiesprachen für Weltreligionen (katholische und apostolische).
Der Ursprung des lateinischen Textes ist die Dies-Iræ-Sequenz
der Totenmesse (Requiem). Dort heißt es Lacrymosa dies illa (Tränenreich
ist jener Tag). Es ist eine besondere Art dieses Textes, immer wieder als
Angst machende Schreckensnachricht über das jüngste Gericht zu
wirken, so in Goethes Faust wie in Berlioz’ Symphonie fantastique oder
Verdis Missa da Requiem. Der Text ist seit 998 in Gebrauch; doch das II.
Vatikanische Konzil hatte aus dem oben benannten Grund jene Dies-Iræ-Sequenz
gestrichen. Sie gehört also seit 1964 nicht mehr zum Kanon der katholischen
Liturgie; jenem Jahr, in dem Martin Luther King der Friedensnobelpreis
verliehen wurde.
Die bewegte Geschichte des Volkes der Armenier, dem ältesten Volk
mit christlicher Staatsreligion (seit 301 durch Trdat III.), erhielt im
Jahr 1915 durch den von der jungtürkischen Regierung verübten
grausamen Völkermord (1,5 Millionen Tote) einen bis dahin im Ausmaß
eines perfide organisierten Verbrechens nie gekannten Tiefpunkt. Ein Auftakt,
den Adolf Hitler mit dem Paukenschlag der systematischen Völkervernichtung
an den Juden fortzusetzen vermochte. Beiden Genoziden ist Menschenhass
und Machtgier gleichermaßen eigen. Es erübrigt sich festzustellen,
dass die große Schreckenssinfonie des 20. Jahrhunderts immer noch
kein Ende haben will. Was an den Armeniern begann und an den Juden fortgesetzt
wurde war die Geschichte von Vertreibung und Vernichtung in nie gekanntem
Umfang. Vielleicht nur noch vergleichbar mit der Ausrottung der Urbevölkerung
auf dem amerikanischen Kontinent im 18. und 19. Jahrhundert.
„Tränenreich“ ist die Klage jener dezimierten Völker. Wolle
man jedem der Ermordeten oder in grausamer Folter Umgekommenen seine eigene
Totenmesse zelebrieren, müssten noch Generationen die Klagegesänge
anstimmen. Bitteres Zeugnis für die Unverfallbarkeit jener bedrückender
geschichtlicher Daten.
In drei Sätzen habe ich versucht, dem Gedenken ein musikalisches
Bild zu geben. Der erste Satz verwendet den lateinischen Text, der zweite
Satz den armenischen und im dritten Satz vereinen sich beide Chöre
in lateinischer und altarmenischen Sprache. Der dunkle, trockene Klang
der Bratsche ist mir die geeignete Wahl für den Solopart. Ob damit
den Gattungen Bratschenkonzert oder Chorkonzert entsprochen wird, kann
ich angesichts der vorliegenden Arbeit nicht festlegen.
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