Werkeinführung
5 TORSI für Chor nach Texten von Heiner Müller 1998/99
Die Idee, dem Canticum canticorum, wie man das Hohe Lied latinisierte,
ein eigenes Werk hinzuzufügen, scheiterte schon an der Textauswahl.
Es war mir unmöglich, Passagen zu finden, deren Musikalisierung für
mich relevant erscheinen würde.
Lang habe ich nach Liebesdichtung gesucht, die den Superlativen des
Bibeltextes etwas Aktuelles, etwas von jenem Biß der Realität
entgegen zu setzen vermag, die meinem Leben und meinen Erfahrungen näher
stehen als die biblische Euphorie.
Liebe ist in ihrer höchsten Erfüllung Schmerz, Sie tut weh,
mit dem ersten Gedanken an das Folgende. Das Erlebnis der höchsten
Erfüllung ist dem Tod näher als der Geburt. Schon die Ungewissheit
der Sehnsüchte nach Nähe verbirgt Distanz und schafft Entfernung
im Bereich des ursächlich Nahen. Die oft besungene Ewigkeit der Liebe
scheitert am Definitionsversuch des Ewigen. Oder besser gesagt: Ewig ist
nur der Wechsel in der Wiederkehr des Gleichartigen. Warum wohl schon die
ersten Blicke ein Schauen in den Abgrund sein können und warum Hochgefühl
und Schmerz fast identisch zu sein scheinen, das ist die Frage, die Dichter
und Denker seit Jahrtausenden unbeantwortet lassen. Die Liebe ist ein undefinierbares
Rätsel, weil es so tief in uns Menschen verankert ist, daß wir
nie die Entfernung zum Gegenstand der Betrachtung finden können, der
uns an den Ursprung unserer Sehnsüchte, Wünsche und Triebe führen
würde.
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