Werkeinführung
Thomas Buchholz: Fünf Barocke Etüden
Die große Unsicherheit wird durch eine unreflektierte Sicht auf
unsere kulturelle Vergangenheit freigesetzt. Vielleicht hat das Europa-Phantom
und andere politischen/ökonomischen Zwangsmaßnahmen im 20. Jahrhundert
zu jenem Vakuum geführt, dass uns im verkrampften Geradeausblick auf
Wurzelsicht tröstet. Nur hat die Wurzel die Angewohnheit, zumindest
botanisch, sich der Veränderung des aus ihr entspringenden Sprosses
anzupassen. Würde sie dies nicht tun, erschlüge sie ihre eigene
Kreation. Ich möchte an dieser Stelle nicht die Konsequenzen erörtern,
die eine degenerative Entwicklung reziprok an den Ursprüngen verursacht.
Abgesehen von dem Zerrbild in der Tröstung solcher Rückbesinnungsapolstel,
die schon allein durch ihre Weltuntergangstheorien an solchen erdgeschichtlichen
Alltäglichkeiten wie Sonnenfinsternissen oder der lustigen Rundung
von zwei Tausendern menschengemachter Zählkunst scheitern. Es wird
immer Götter geben; wir brauchen sie um etwas zu haben, an das nicht
zu glauben, uns neue Gottsichtige lehren dürfen. Welch weise Vision
von der Unendlichkeit geschichtlicher Prozesse. Wie viele Wurzeln der Humangenese
wurden dadurch schon gerodet? Wer mag den Grad des Rudimentären auszumachen,
dessen schemenhafte Konturen verführen, “Ursprung” zu deuten, wo nur
Veränderung ist. Falls Heraklid recht hat mit seinem untröstlichen
“ALLES FLIEST”, müsste sich der Mensch von der zentrierten Rotation
verabschieden, als dessen Fundament er die vermeintlich zirkumpolaren Ursprünge
zur Ankerung seiner Drehung mißbraucht.
Das 20. Jahrhundert war im Gegenzug zu den umfangreichen geistesgeschichtlichen
Entwicklungen auch mit Verarmungstendenzen angereichert, so als müsse
jeder Gewinn mit Verlust bezahlt werden. Es scheint als bleibe die Summe
von geschichtlichen Entwicklungsergebnissen immer gleich, als habe die
biblische These von der Schwachheit des menschlichen Geistes bezogen auf
die Humangenese Ewigkeitsanspruch. Die defizitären Entwicklungen werden
als Werteverlust definiert, was so leicht und verführerisch ist, dass
jeder es glauben möchte, der wie auch immer geartete Verlustempfindungen
hat. Interessant vielleicht könnte die Überlegung sein, dass
derartige Empfindungen ihren Wertungshintergrund immer aus Tradiertem schöpft,
der Verlust also aus dem Verschwinden von Gewohntem, Liebgewordenem empfunden
wird. Ob es eventuell nicht auch so sein könnte, dass alte Werte durch
neue Werte ersetzt werden, die man nicht sehen will oder kann, oder ob
nicht alten Werten einfach neue hinzugefügt werden, deren allgemeine
Akzeptanz keine Garantie besitzt, bleibt die dabei diffizilste Frage. Und
diese Frage wirft ein Problemfeld auf, dass gerade die Künste und
Wissenschaften berührt.
Sich als lebender Komponist in Mitteldeutschland dem Barock nicht abzuwenden
dürfte mittlerweile genauso untugendhaft sein, als verschmähte
man die Musik von Johann Sebastian Bach. Wurzelsicht kann auch Hinwendung
bedeuten, wird Prüfung sein müssen und Experiment mit dem Überkommenen.
Erst der zweite Schritt schafft Sondierung. Vorliegende Suite ist eine
Auswahl aus Beobachtungen und frecher Kommentar eines Unbelehrbaren.
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