Werkkommentar

Thomas Buchholz (*1961):  Sonnen.Lieder.Zyklus

 

Das Werk entstand in der Zeit vom Dezember 2005 bis Januar 2006 auf Anregung des Trios Cantraiano und zum 70. Geburtstag meines Lehrers Günter Neubert. Diese zweite Widmung hat die einfache Ursache, dass die erste kompositorische Arbeit, die ich im Unterricht bei Günter Neubert vor mehr als 25 Jahren anfertigte der Zyklus „Skizzenblatt“ für Sopran und Flöte (Verlag Neue Musik/CD: Kreuzberg Records, Berlin und Deutscher Musikrat) war, so dass sich hier ein Kreis schließt. „Skizzenblatt“ war nach Gedichten von Nika Turbina, einer damals achtjährigen Lyrikerin von der Krim thematisch dem Abschied von der Kindheit gewidmet. „Sonnen.Lieder.Zyklus“ nach Texten von Louize Labé, Friedrich Hölderlin und Georg Heym ist eine Arbeit, die die späten Sonnen der Liebe reflektiert.

 

Entgegen „Skizzenblatt“ ist „Sonnen.Lieder.Zyklus“ ein sehr ausgespart instrumentiertes Werk. Nur in einem einzigen Stück sind alle drei Partien vertreten, ansonsten werden von den drei möglichen Soli noch alle drei möglichen Duokonstellationen mit je einem Satz vorgestellt. Damit ergibt sich folgende zyklische Struktur:

 

Nr.:

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

Titel:

Sonnen.

Falter

Sonett

Kristall

Sommer

Flecken

Liebe

Wind

Besetzung:

Altflöte

Altflöte

Sopran

 

 

Klavier

 

Sopran

Klavier

Altflöte

 

Klavier

Altflöte

Sopran

Klavier

 

Sopran

 

Text:

 

 

Labé

(P. Zech)

 

Hölderlin

 

Labé

(P. Zech)

Heym

 

Die interne Struktur ist sehr sparsam angelegt, mithin auf eine einzige Tonfolge beschränkt, die als Keimzelle für den gesamten Zyklus gilt:

 

 

Diese Tonfolge besteht aus drei Motiven mit je drei Tönen. Die Motive A und B begegnen sich im Motiv C als Kombination von Terz (aus Motiv A) und Sekunde (aus Motiv B). Der Rahmen von Motiv A zu Motiv C spannt sich über die Komplementäre Quinte-Quarte. Diese Tonfolge wird nun nach allen Möglichkeiten kompositorischer Variantenbildung verändert und teilweise bis zur Unkenntlichkeit verformt. Dabei spielen rhythmisch-metrische Varianten ebenso eine Rolle wie kontrapunktische Umbildungen (Krebs, Spiegel, Spiegelkrebs) in diatonischer wie in chromatischer Form eine Rolle.

 

Das erste Stück „Sonnen.Falter“ ist isorhythmisch gebaut, d. h. dass bei ständig sich ändernder Tonfolge (die Veränderungen der Tonhöhe ergeben sich aus den Varianten der  Melodie der Keimzelle) der hier abgebildete Rhythmus unverändert bleibt:

 

 

Das zweite Stück hat Modellcharakter für alles, was dann weiter folgt. Die rhythmisch-metrische Struktur folgt nicht den Vorgaben des Textes. Vielmehr wird der Text dadurch selbst musikalisches Element, in dem seine strenge literarische Sonettform ihre musikalische Entsprechung findet. Die Musik gehorcht in ihrer kontrapunktischen Zweistimmigkeit der hier schematisch abgebildeten Modell, das aus diversen Spiegelformen gebildet ist:

 

 

Die melodische Struktur bildet sich aus folgendem Modell, das aus einer transponierten Krebsform der Keimzelle entstanden ist mit den darunter abgebildeten Varianten:

 

 

Dabei wird im zweiten Stück ähnlich der rhythmischen Struktur auch melodisch mit Vergrößerungen, Verkleinerungen, Spiegel- und Krebsformen gearbeitet. Man vergleiche den Beginn des zweiten Stückes mit den  Gestalten der hier abgebildeten Modelle. Der Sopranpart ist der vergrößerte Spiegel der melodischen Originalgestalt. Die Altflöte hingegen intoniert einen auf diatonischer Grundlage entwickelten und transponierten Spiegelkrebs der Kernmelodie. Die rhythmische Gestalt entspricht genau dem Modell. Die entstehende Zerrissenheit der einzelnen Parts widerspiegelt ein vorsichtiges ‚Abtasten’ des Textes und schafft eine weitere semantische Ebene.

 

 

Alle weiteren Stücke sind auf ähnliche Weise gebaut, was den Zyklus, bei allem Variantenreichtum, eine gewisse Geschlossenheit gibt. Dabei werden virtuose Figuren ebenso wie Akkordbildungen allein aus dem Material der Keimzelle gebaut, wofür hier noch zwei Beispiele aus dem vierten Stück stehen:

 

 

 

 

Der Zyklus ist in sich bogenförmig geschlossen durch die beiden Soli von Altflöte am Anfang und Sopranstimme am Ende. Intern ist der Zyklus asymmetrisch gegliedert. Die Zusammenstellung der Texte habe ich frei gestaltet. Das wunderbare Sonett XV entstammt der 1555 veröffentlichten Sammlung von vierundzwanzig Sonetten der französischen Renaissance-Dichterin Luize Labé in der Nachdichtung von Paul Zech. Das berühmte Gedichtwerk wurde bereits 1917 durch Rilke übertragen. Zechs Fassung entstand im Amerikanischen Exil und erschien ein Jahr nach seinem Tode 1947. Die Verse des Sonetts XV habe ich in zwei gleiche Teile gespalten. Der erste Teil ist Text des zweiten Stückes und der zweite Teil Text des sechsten Stückes. Die Sonette der Labé artikulieren Klage über unerfülltes Liebesverlangen, sie sind beredtes Zeugnis der Sinnesfreude mit dem Anspruch auf Glück. In Friedrich Hölderlins Turmgedichten aus seinem Tübinger Turmzimmer ist nur wenig Sonne beschieden, aber wo sie auftaucht, dann mit tiefroter Färbung dichterischer Reife. Das Gesicht „Der Sommer“ ist 1758 datiert. Für das  vierte Stück „Sonnen.Sommer“ habe ich die zweite Strophe des Gesichtes gewählt. Eine besondere Rolle in meinem Schaffen spielen immer wieder Texte von Georg Heym (1887-1912), jenem frühvollendeten Dichter, dessen Texte Zeitgenossen erschütterte und Nachgeborenen das gnadenlose Entsetzen angesichts erlebter Geschichte lehrte. Sein Einsamkeit verkündendes Gedicht „Auf einmal kommt ein großes Sterben“ habe ich vollständig bereits für den ersten Satz meiner „Passion für Soli, Chor und Orchester“ verwendet. Der zweite Teil des Gedichtes ist wie das Ende der Herbstsonne, gleichsam den Verlust an Wärme artikulierend, den „Silberwind“ spürend, der die Bäume entlaubt, wie ein Fanal des letzten Atems, die Stille ahnend, die da kommen wird. Das sind Verse, gehauen mit dem Meisel in den rohen Stein. Ich begegne diesen wunderbaren Wortwerken durch einen äußerst konzentrierten Umgang mit dem musikalischen Material.


Anhang: Das fünfte Stück „Sonnen.Flecken“ charakterisiert bereits im Notenbild, was hier gemeint ist. Dem unsinnigen Terminus ‚Tonmalerei’ ist hier zumindest die ‚Tongrafik’ beigesellt:

 

 

Thomas Buchholz, Halle (Saale), im Frühjahr 2006